Mehr Fluss in sehr urbanem Umfeld
Renaturierung Die Limmat wird zwischen Zürich und Dietikon aufgewertet. Es entstehen Nistplätze für den Eisvogel und Badeplätze für den Menschen. Doch was geschieht mit den Gummiböötlern?
Der Projektname lautet «Lebendige Limmat», und er ist Programm: Ab der Grenze der Stadt Zürich entsteht flussabwärts auf einer Länge von mehr als drei Kilometern eine Flusslandschaft, in der sich Fische, Vögel, Amphibien und Pionierpflanzen – aber auch die Menschen – wohlfühlen sollen. Das konkrete Projekt ist gestern Morgen den Medien vorgestellt und danach im Beisein zahlreicher Gäste lanciert worden. Der Flusslaufwird in drei Zonen unterteilt: In einer hat die Natur Vorrang. Hier sind unbefestigte und kiesige Ufer sowie Kiesinseln geplant, wo etwa der stark gefährdete Flussuferläufer einen Lebensraum und der Eisvogel Nistgelegenheiten findet. Solche Auenlandschaften, in denen der Fluss mäandrieren kann, sind für die Artenvielfalt sehr wertvoll. In gewissen Bereichen aber wird den Menschen Priorität eingeräumt. So entstehen entlang der ganzen Strecke vier Badewiesen. Im Herzstück der Renaturierung, dem Betschenrohr, ist auch ein Aussichtsturm vorgesehen. Die Uferwege werden freier zugänglich. So wird etwa der Zaun beim Gaswerk verschwinden.
Auch gut für die Fische
Daneben sieht das Projekt «Lebendige Limmat» auch Mischzonen vor, wo sich Mensch und Natur gleichermassen breitmachen und sich begegnen können. Die seit einigen Jahren beliebten Gummibootfahrten auf der Limmat werden weiterhin zugelassen – und wohl in einer lebendigeren Flusslandschaft noch attraktiver sein. Die Verantwortlichen sind zuversichtlich, dass die beiden Nutzungen ohne grössere Konflikte aneinander vorbeigehen, da die naturbelassenen Bereiche wenig attraktiv zum Auswassern sind. Schliesslich wird der aus seinem Korsett befreite Fluss auch weniger schnell über die Ufer treten, weil er ausweichen kann. Bilder wie diejenigen vom Juli 2021, als die Limmat in diesem Bereich Felder und Schrebergärten unter Wasser setzte, sollten dann der Vergangenheit angehören. Der revitalisierte Abschnitt wird nicht nur besser vor Hochwasser geschützt sein, sondern auch vor Hitze und Trockenheit. Denn naturnahe Gewässer graben sich tiefere Rinnen, bieten den Fischen mehr Rückzugsmöglichkeiten und erhitzen weniger, weil die Uferbereiche grüner sind. Projektleiter Markus Federer vom Amt für Abfall,Wasser, Energie und Luft (Awel) sagte: «Die ‹lebendige Limmat› ist eine Jahrhundertchance für uns und die kommenden Generationen.» Diese Limmat wird allerdings auch mehr Raum beanspruchen. Die Flusslandschaft wird um zwanzig Hektaren erweitert. Das ist bemerkenswert viel in einem so dicht besiedelten Raum. Davon zählen laut Federer 9,6 Hektaren zu den Fruchtfolgeflächen. Überdies wird ungefähr die Hälfte des Familiengartenareals Betschenrohr dem Fluss zurückgegeben.
Der unbändige Fluss
Lebendig war die Limmat schon einmal. So lebendig, dass sie kaum zu bändigen war. Bis 1844 existierte zwischen Baden und Zürich kein einziger fester Flussübergang – abgesehen von einer temporären Brücke beim Kloster Wettingen von 1765 bis 1799. Als die Industrialisierung auch diese Region erreichte, begann die Zeit, in der die Limmat nach und nach in ein Korsett gezwungen wurde. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entstanden entlang des Flusses Spinnereien und Webereien, die Kanäle bauten, um das Wasser zu nutzen. Trotzdem überschwemmte die Limmat regelmässig die umliegenden Gebiete, obwohl der Zürichsee als natürliches Ausgleichsbecken funktionierte. Nämlich dann, wenn Sihl, Reppisch und Furtbach, die erst nach dem See in die Limmat münden, Hochwasser führen. Die Sihl tut das bis heute noch zuweilen. Der Schutz vor dem Sihlhochwasser wird wohl erst gewährt sein, wenn der im Bau befindliche Entlastungsstollen zum Zürichsee zwischen Langnau am Albis und Thalwil in Betrieb geht. Stand jetzt, wird das 2026 sein.
Der gebändigte Fluss
Lange waren die Menschen diesem Auf und Ab der Fliessgewässer hilflos ausgeliefert. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Zentren der Limmattaler Gemeinden weit weg vom eigentlich doch meist schönen Gestade liegen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts machte die Ingenieurskunst dann gewaltige Fortschritte. Der Mensch lernte, die Flüsse zu bändigen, an der Limmat tat er das ein erstes Mal 1876, dann verstärkt 1895 bis 1910. Nachdem 1933 in Dietikon das Kraftwerk des Elektrizitätswerks des Kantons Zürich erneuert und in Wettingen das Wehr gebaut worden war, wurde die Limmat teils zum stehenden Gewässer – ganz und gar nicht mehr lebendig. Laut Awel-Chef Christoph Zemp ist im Kanton Zürich etwa die Hälfte der 3550 Kilometer Fliessgewässer in schlechtem Zustand. Bis 2035 sollen 100 Kilometer revitalisiert werden. Dem Projekt an der Limmat kommt dabei eine Vorreiterrolle zu. Es gilt als die bedeutendste Gewässer-Revitalisierung, welche der Kanon Zürich je im urbanen Umfeld umgesetzt hat.
Auch kritische Fragen
Das Projekt sei breit abgestützt, betonte Projektleiter Federer, zumal die Standortgemeinden und Interessenverbände bei der Planung eng einbezogen worden seien. Trotzdem gibt es auch kritische Stimmen. Drei SVP-Kantonsräte – Erstunterzeichner ist Pierre Dalcher aus Schlieren – wollen vom Regierungsrat wissen, ob der Ersatz des Kulturlands sowie der Schrebergärten vorgesehen ist. Und ob Varianten untersucht wurden, die weniger Kulturland beanspruchen. Laut Federer werden die Fruchtfolgeflächen, wie es vorgeschrieben ist, ersetzt, indem «möglichst nahe» landwirtschaftlich nutzbarer Boden aufgewertet wird. Der Schlieremer Stadtingenieur Hans-Ueli Hohl versicherte: «Schlieren bekennt sich zum Gärtnern.» Es sei das Ziel, möglichst viele Gärten zu erhalten. Allerdings sollen sie mittelfristig etwas anders aussehen: kleinere Parzellen, weniger Bauten, eine Anzahl Gemeinschaftsgärten – und alle biologisch. Doch wird noch einiges Wasser die Limmat hinunterfliessen, bis die Biber von Baggern Konkurrenz erhalten. Denn erst einmal müssen die ganzen Bewilligungsverfahren durchlaufen werden. Kein Widerstand ist von jenem Landbesitzer zu erwarten, der mit Abstand am meisten Land hergeben muss: das Kloster Fahr. Es hat bereits Hand für das Unternehmen geboten. Doch selbst ohne Rekurse dürfte die Bauphase nicht vor 2027 starten. Die Kosten von geschätzt 70 Millionen Franken tragen vor allem Bund und Kanton.